Saint-Émilion ist wahrscheinlich die idiosynkratischste Appellation von Bordeaux. Aber genau diese Heterogenität ist es, nach Ansicht von Cheval Blancs technischem Direktor Pierre-Olivier Clouet, die die Region so spannend macht. Wir wollten von diesem dynamischen Weinmacher erfahren, wie man das Undefinierbare definiert – und was ihn antreibt, die Appellation in ein neues Zeitalter zu führen.
Saint-Émilion war schon immer schwer zu definieren. Im Gegensatz zu anderen großen Terroirs von Bordeaux – Margaux mit seinen seidigen Tanninen, Pauillac mit seiner grafitähnlichen Mineralität und Struktur oder Pomerol mit seiner mächtigen, opulenten Art – war es nie einfach, das Profil von Saint-Émilion zu charakterisieren. Darüber hinaus können die Weine auch irritierend unbeständig in ihrer Qualität sein, und das macht die Region zur eigentümlichsten Appellation von Bordeaux.
Aber über die Unterschiede in Qualität und Geschmacksprofil hinaus hat sich in den letzten Monaten mit der politischen Zersplitterung der Appellation noch ein weiterer Unsicherheitsfaktor ergeben. Drei der vier als Premier Grand Cru Classé A eingestuften Domänen (Cheval Blanc, Ausone und Angélus) sind aus der Klassifikation ausgetreten.
„Vielleicht lassen sich die vielen Eigentümlichkeiten von Saint-Émilion besser verstehen, wenn man in Betracht zieht, dass es mit einem Areal von fast 6.000 Hektar und über 800 Erzeugern die größte kommunale Appellation von Frankreich ist“, meint Pierre-Olivier Clouet. Zum Vergleich: Die zweitgrößte Appellation, Châteauneuf-du-Pape, umfasst mit 3.300 Hektar nur knapp über die Hälfte der Fläche. Bei solch einer Ausdehnung hat Saint-Émilion einfach nicht die Homogenität bei den Böden wie die anderen Appellationen von Bordeaux und das ist in Clouets Augen der Hauptgrund für die Diversität der Region.
Während viele der besten Weingüter auf einem Kalkplateau im Vorgebiet der historischen Stadt liegen, geht die Appellation in ihrer Ausdehnung weit über dieses Gebiet mit seinem markanten Terroir hinaus und kann nicht auf Kalkböden als alles übergreifendes Merkmal reduziert werden. Dafür ist Cheval Blanc das allerbeste Beispiel – als wahrscheinlich untypischstes Weingut von Saint-Émilion. „Wenn Merlot auf Kalkböden die DNA von Saint-Émilion sein soll, ist es ein Wunder, dass Cheval Blanc überhaupt zu dieser Appellation gehört, mit seinem auf tonhaltigem Boden angepflanzten Cabernet Franc“, schmunzelt Clouet.
Cheval Blanc liegt im westlichen Grenzgebiet der Appellation, nicht weit von Pomerol, vier Kilometer von dem Kalkplateau Saint-Émilions entfernt. Aber Cheval Blanc lässt sich auch nicht ganz so einfach mit Pomerol vergleichen. „Eigentlich sollten wir eine Monopolappellation haben“, scherzt Clouet. Aber ganz so Unrecht hat er damit nicht, denn Cheval Blanc befindet sich zwar übergreifend auf den beiden besten Terroirs auf dem rechten Ufer, ist aber weder für das eine noch das andere typisch. Clouet gibt zu, dass es das auf jeden Fall schwierig macht, Cheval Blanc einzuordnen, verglichen mit den anderen großen Weingütern des Bordeaux, die sich durch ihre Parität von Rebsorte und Terroir definieren lassen.
„Petrus ist Merlot auf Tonböden. Lafleur ist Cabernet Franc auf Kieselgestein. Ausone ist Cabernet Franc auf Kalkboden. Latour ist Cabernet Sauvignon auf Ton. Cheval Blanc lässt sich nicht auf diese Weise erfassen”, erlärt Clouet, „weil es von verschiedenen Böden stammt.“
Cecile Burban©
Clouet meint, dass diese facettenreiche Persönlichkeit die Flexibilität von Cheval Blanc ausmacht und der Hauptgrund für den Erfolg und die Beständigkeit des Weinguts ist. „Wir fühlen uns sehr begünstigt, dass wir diese beiden wichtigen Bodenarten des rechten Ufers zur Verfügung haben. Wenn es ein gutes Jahr für Merlot ist, setzen wir Merlot ein, aber wenn die klimatischen Bedingungen für Tonböden besser sind, machen wir uns die Vorteile des Tons zunutze. So können unsere Weine immer die Stärke des Jahrgangs zur Geltung bringen“.
Cheval Blanc umfasst 53 Parzellen auf 10 verschiedenen Bodenarten – Ton, Sand, Kies in unterschiedlichen Anteilen. Bei den Sorten gibt es Cabernet Franc, Cabernet Sauvignon und Merlot. Für Clouet besteht das DNA von Cheval Blanc aus seiner Vielfalt. „Wir sind ein Orchester, nicht ein Solist. Wir brauchen alle unsere Musiker, um unsere Musik zu machen.“
Vielleicht ist es diese Vielfalt, die Cheval Blanc zum idealen Botschafter für den heterogenen Charakter der Appellation Saint-Émilion macht. Obwohl Cheval Blanc vor Kurzem aus dem Klassifikationssystem ausgeschieden ist, hat die Appellation von Saint-Émilion für Clouet immer noch eine große Bedeutung, ein Wahrzeichen, welches es zu verteidigen und unterstützen gilt – mit Zeit und Geld. Die Weine von Saint-Émilion sind alle miteinander durch ihre Herkunft verbunden, und das ist für Clouet wichtiger als Sorte oder Cuvée, auf die sich andere Regionen seiner Ansicht nach zu Unrecht konzentriert haben. „Jede Flasche Wein sollte von ihrer Herkunft erzählen.“ Und genau das tut Cheval Blanc, egal wie vielseitig sein Terroir auch sein mag. Und so ist es auch, mit Ausnahme einer kleinen Erweiterung um eine angrenzende Parzelle im Jahr 2012, eines der wenigen Châteaux in Bordeaux, dessen Weinbergsfläche sich seit 150 Jahren so gut wie nicht verändert hat.
Clouet sieht in der Appellation aber viel mehr als nur Terroir. Im Herzen Saint-Émilions befindet sich für ihn eine dynamische Inspiration. Weil sie auf der einen Seite nicht einfach zu definieren ist, bietet sie auf der anderen Seite mehr Flexibilität als andere Appellationen. Man nennt Saint-Émilion oft die „burgundischste“ aller Gemeinden des Bordeaux wegen der großen Zahl von kleinen Weingütern und Winzern, die es dort gibt. Das macht sie in seinen Augen zu einem „dynamischen Ort“.
„Hier denkt man ständig an Weiterentwicklung“, und das sieht er als einen großen Vorteil. „Kleine Weingüter können sich schneller vorwärts bewegen. Dies hier ist wahrscheinlich die am meisten von Winzern angetriebene Appellation von Bordeaux.“ In der Vergangenheit hat diese Dynamik Saint-Émilion zweifelsohne zum Trendsetter der Region gemacht, je nach Standpunkt im guten, aber auch manchmal im schlechten Sinn. Die Entstehung der Garagenweingüter in den frühen 2000ern zum Beispiel, ist eine Modeerscheinung, die die Gegend weiterhin spaltet. Aber Clouet glaubt auch, dass Saint-Émilion einen Vorsprung vor den anderen Appellationen von Bordeaux hat, was Nachhaltigkeit angeht, ebenso wie die Hinwendung zu Frische und Feinheit und nicht zuletzt Identifikation mit dem Terroir.
Cheval Blancs neues Kellereigebäude, entworfen von Christian de Portzamparc
Er sagt aber auch, dass es kein Allgemeinrezept für diese Entwicklung gibt. „Jedes Château muss seinen eigenen Weg finden. Wir müssen vorsichtig bleiben und nicht zu weit gehen. Manche lesen heute zu früh, andere benutzen ein bisschen zu viel Holz.“ Coco Chanel hat einmal gesagt: „Mode ändert sich, aber Stil bleibt“. Jeder Winzer muss seine eigene Identität finden, seinen eigenen Stil, und dem soll er treu bleiben. Man soll immer offen für Neues sein, aber nie andere nachmachen, einer Formel folgen oder Trends hinterherrennen.
Der letzte Schrei in Saint-Émilion, mehr Cabernet Franc anzupflanzen, ist für Clouet ein perfektes Beispiel dafür, wie unsinnig es sein kann, unüberlegt einem neuen Trend zu folgen. „Cabernet Franc ist heutzutage vielleicht die modischste Sorte der Welt. Jeder Winzer, den wir treffen, will mit uns über Cabernet Franc reden. Man scheint es als Antwort im Weinberg für die Erderwärmung zu betrachten, aber ich glaube, dass es genau umgekehrt ist.“ In Clouets Augen hat Cabernet Franc nicht die Fähigkeit sich anzupassen: auf dem richtigen Boden bringt er tolle Weine hervor, aber anderswo sind die Ergebnisse eine Katastrophe. Für ihn ist der heiße Jahrgang 2020 der Beweis – bei Erzeugern wie Lafleur und Ausone, die wie Cheval Blanc auch, unter diesen Bedingungen Merlot dem Cabernet Franc vorzogen, selbst wenn sie mehr Cabernet im Weinberg haben. Die warmen, trockenen Wetterbedingungen waren nicht gut für die in Mode gekommene Sorte – und zu viel Abhängigkeit von am falschen Ort angepflanzten Cabernet Franc wird sich angesichts des Klimawandels als Katastrophe herausstellen.
Wenn Cheval Blanc jetzt schon untypisch ist, so plant man hier in der Zukunft noch mehr auf Diversität zu setzen. Wenn seine Identität bisher aus Merlot auf Kies und Cabernet Franc auf Ton beruhte, will man jetzt „alles überall“ anpflanzen. „Wir möchten die Diversität vervielfältigen“. Diversifizierung steht heute bei Cheval Blanc im absoluten Mittelpunkt der Planung, wie man in seinem kürzlich veröffentlichten Manifest nachlesen kann – eine klare Ansage, dass sich Bordeaux von Monokulturpflanzungen verabschieden muss, wenn es nicht seine Zukunft aufs Spiel setzten will.
„In den letzten zehn Jahren war die Landwirtschaft ein Problem“, sagt Clouet, „aber ich glaube, dass sie zur Lösung beitragen könnte.“ Als Beispiel führt er Kohlendioxid an: weil es in der Atmosphäre zu viel davon gibt, könnten Bäume, Reben und bodenbedeckende Pflanzkulturen dazu benutzt werden, es zu absorbieren. Clouet besteht darauf, dass das Manifest nicht nur ein Stück Papier oder Werbegag ist, sondern eine Anleitung dazu, wie man einen nachhaltigen Ansatz umsetzen könnte. „Das größte Problem der Landwirtschaft im 20. Jahrhundert waren nicht nur die Pestizide, sondern auch die Monokultur.“ Clouet gibt zu, dass Cheval Blanc auch in der Zukunft nur mit seinen Weinen Geld verdienen wird, aber andere Pflanzenkulturen und Nutztiere sollen dazu benutzt werden, „Widerstandsfähigkeit, Krankheitsbekämpfung und Verhinderung anderer Probleme im Weinberg zu verbessern.“ Vor 50 Jahren holzte man noch Bäume in den Weinbergen ab, um mehr Platz für Traktoren zu schaffen, aber davor lebten Reben, Bäume und andere Pflanzen in ungestörter Eintracht.
„Ökologische Bewirtschaftung allein reicht heute nicht mehr aus“, meint Clouet, aber er will auch nicht einfach das Rad zurückdrehen. „Wir wollen uns das Beste der Moderne zu eigen machen.“ Cheval Blanc ist nicht ökologisch zertifiziert, weil man glaubt, dass bei der ökologischen Bodenbearbeitung zur Bekämpfung von Mehltau weitgehend eingesetzte Kupfersubstrate schädlicher sind als synthetische Präparate. „Es ist doch ganz klar, dass bei der ökologischen Bekämpfung von Mehltau jede Woche gespritzt werden muss. Das ist totaler Unsinn. Wir versuchen logisch zu denken. Die Lösung kann nur mit Wissenschaft und Forschung gefunden werden. Wir sollten uns nicht einfach auf Philosophie verlassen. Wir müssen agronomisch und praxisorientiert vorgehen.“ I
Wenn dynamische Veränderung im Geiste Saint-Émilions liegt, dann passt es doch gut, dass das am meisten respektierte Weingut der Appellation an der Spitze der praktischen und kulturellen Umwälzungen in den Weinbergen der Region steht, um seine Zukunft zu gewährleisten. Bei Cheval Blanc ist man der Meinung, dass sich die Landwirtschaft an einem Scheideweg befindet. „Die Bewirtschaftung der Weinberge ist von den Launen des Klimawandels und der drastischen Verschlechterung der Biodiversität abhängig“, so die Botschaft des Manifests von Cheval Blanc. Über die letzten Jahre hinweg hat Cheval Blanc seine Weinberge in Permakulturen verwandelt – mit Neuanlagen von Bäumen, Pflanzen, anderen Früchten und Gemüse zwischen den Rebflächen, aber auch mit grasenden Tieren, Blumen und Bienen. Mit diesem Konzept soll die Fruchtbarkeit des Bodens gesteigert, Vielfalt gefördert und Kohlendioxid gebunden werden.
Wenn man von den letzten politischen Streitereien über das derzeitige Grand Cru Classé System, den schier endlosen Gerichtsverfahren und den Korruptionsvorwürfen hört, könnte man meinen, dass Saint-Émilion seine Seele verliert. Aber Clouet glaubt, dass es genau diese Seele ist, die diese unvergleichliche Appellation zusammenhält. Man soll sich durch das Klassifikationschaos nicht irreführen lassen: dahinter steht eine heterogene Schar von Erzeugern, die durch ihre Diversität und Energie vereint sind. Kann Cheval Blanc mit seinem Manifest die unruhige Appellation wieder einigen und die Winzerschaft dazu bewegen, für eine gemeinsame, nachhaltige Zukunft zusammenzuarbeiten? Auf Cheval Blanc ist man voller Hoffnung.
Hier kann mehr über Bordeaux erfahren oder alle Angebote von Cheval Blanc finden.
Das Foto von Pierre-Olivier Clouet stammt von Gerard-Uferas©
Author: Gavin Smith